Psychotherapie vs. Begleitung

Warum ich mich trotz sehr langer und fundierter Ausbildung in der Psycho- und Traumatherapie gegen eine Heilkundeerlaubnis entschieden habe.

Das Problem mit Diagnosestempeln

Reduzierung auf eine Kategorie

Diagnosen wie „Depression“, „Angststörung“ oder „PTBS“ sind nützlich, um Symptome zu klassifizieren und Behandlungsansätze zu entwickeln. Allerdings bergen sie die Gefahr, die Vielschichtigkeit einer Person auf ein einziges Etikett zu reduzieren. Menschen sind mehr als ihre Symptome – sie bringen individuelle Erfahrungen, Ressourcen und Lebenskontexte mit, die oft nicht in einer Diagnose abgebildet werden.

Stigmatisierung und Selbstwahrnehmung

Diagnosen können auch eine Belastung darstellen. Ein Stempel wie „Borderline“ oder „Schizophrenie“ kann bei Patienten das Gefühl hervorrufen, defizitär oder „krank“ zu sein. Gleichzeitig kann eine Diagnose zu Stigmatisierung führen – im sozialen Umfeld, am Arbeitsplatz oder sogar im medizinischen System selbst. Insbesondere bei Jugendlichen kann dies bei der späteren Berufswahl zu Problemen führen und ihn den Zugang zu manchen Berufen unmöglich machen.

Fixierung statt Entwicklung

Eine Diagnose ist oft statisch, während psychische Gesundheit dynamisch ist. Der Fokus auf einen Diagnoseschlüssel kann dazu führen, dass weniger Raum für individuelle Entwicklung bleibt. Therapien sollten sich jedoch an den persönlichen Zielen der Patienten orientieren – nicht an starren Kategorien.

Psychotherapie ohne Diagnosestempel: Geht das überhaupt?

In vielen Ländern ist die Vergabe einer Diagnose Voraussetzung für die Kostenübernahme durch die Krankenkassen. Es gibt bereits alternative Modelle, die zeigen, dass Psychotherapie auch ohne Diagnosestempel funktionieren kann:

Symptombezogene statt diagnosebasierte Ansätze

Therapeuten könnten sich auf die aktuellen Belastungen und Ziele der Patienten konzentrieren, ohne diese in ein diagnostisches Korsett zu zwängen. Eine Person, die mit Erschöpfung und Schlafproblemen kämpft, braucht nicht unbedingt die Diagnose „Depression“, um Unterstützung zu erhalten – sondern konkrete Strategien, um mit ihrer Situation umzugehen.

Ressourcenorientierung

Ein ressourcenorientierter Ansatz richtet den Blick auf die Stärken und Fähigkeiten der Patienten. Anstatt sich auf das „Problem“ zu fokussieren, geht es darum, gemeinsam Lösungen zu erarbeiten und das Wohlbefinden zu fördern – unabhängig von einer formalen Diagnose.

Therapie als präventive Maßnahme

Psychotherapie könnte auch präventiv verstanden werden. Menschen, die Unterstützung in schwierigen Lebensphasen suchen, sollten nicht erst „krank genug“ sein müssen, um Hilfe zu erhalten. Ein diagnostikfreier Zugang könnte hier Hürden abbauen.

Warum Diagnosen dennoch eine Rolle spielen können

Natürlich gibt es auch Argumente für die Vergabe von Diagnosen. Sie können hilfreich sein, um den Zugang zu bestimmten Behandlungsformen zu erleichtern oder die Kommunikation zwischen Fachleuten zu vereinfachen. Außerdem können sie Patienten dabei helfen, ihre Symptome besser zu verstehen. Der Schlüssel liegt jedoch darin, Diagnosen nicht als absolute Wahrheiten, sondern als Werkzeuge zu betrachten – flexibel und anpassbar an die Bedürfnisse der Betroffenen.

Mein Plädoyer für mehr Freiheit in der Psychotherapie

Psychotherapie sollte meiner Ansicht nach ein Ort sein, an dem Menschen sich entfalten können – ohne das Gefühl, in Kategorien eingeordnet zu werden. Der Verzicht auf den Diagnosestempel könnte dazu beitragen, den Fokus wieder auf das Wesentliche zu richten: die persönliche Entwicklung und das Wohlbefinden der Patient*innen.

Das bedeutet nicht, dass Diagnosen komplett abgeschafft werden sollten, sondern dass sie bewusster und achtsamer eingesetzt werden. Gleichzeitig braucht es strukturelle Veränderungen im Gesundheitssystem, um diagnosefreie Therapieansätze zu ermöglichen.

Die Zeit ist in meinen Augen reif für einen Wandel in der Psychotherapie – hin zu mehr Offenheit, Individualität und einem echten Fokus auf das, was Menschen wirklich brauchen.

Fazit

Aus dieser Ausgangslage heraus habe ich mich entschieden, keine Heilkundeerlaubnis zu erlangen. Mein Ziel ist es, junge Menschen durch Krisen zu begleiten und sie dabei zu unterstützen, sich in ihrer Persönlichkeit weiterzuentwickeln und ihre individuellen Ziele zu erreichen – ohne ihnen ein Diagnosensiegel aufzuerlegen und sie dadurch in eine Schublade zu stecken. Bei mir darf jeder so sein, wie er ist, denn jeder Mensch ist wertvoll, genauso wie er ist.

Meine Arbeit ersetzt keinesfalls den Besuch beim Arzt, Psychotherapeuten oder Heilpraktiker, kann diese jedoch ergänzen. Ich betrachte den Klienten stets in seiner Ganzheit und habe das Ziel, ihn durch belastende Situationen zu begleiten und die Entfaltung seiner Potenziale zu fördern.