Dissoziation bei Trauma: Wie das Gehirn mit Überforderung umgeht

Veröffentlicht am 4. Juni 2025

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Traumatische Erfahrungen können das Leben eines Menschen auf tiefgreifende Weise beeinflussen. Eine der häufigsten Reaktionen auf Trauma ist die Dissoziation – ein psychologischer Mechanismus, der dazu dient, den Betroffenen vor den überwältigenden Gefühlen und Erinnerungen zu schützen. In diesem Blogbeitrag gehe ich der Frage nach, was Dissoziation bei Trauma bedeutet, wie sie sich manifestiert und welche Auswirkungen sie auf das Leben eines Menschen haben kann.

Was ist Dissoziation?

Dissoziation beschreibt einen Zustand, in dem sich eine Person von ihrem eigenen Körper, ihren Gedanken, Gefühlen oder ihrer Umgebung entfernt. Es handelt sich um eine Art „Abschaltung“ oder Trennung, die oft als Schutzmechanismus des Gehirns auf extrem stressige oder traumatische Erlebnisse dient. Diese Reaktion ermöglicht es der betroffenen Person, sich von den belastenden Aspekten des Traumas zu distanzieren, um nicht vollständig von der Erfahrung überwältigt zu werden.

Dissoziation kann in verschiedenen Formen auftreten, die von einer temporären „Abwesenheit“ bis hin zu langfristigen und ernsthaften Störungen reichen. Sie kann auf ein einmaliges Ereignis folgen, aber auch bei wiederholtem Trauma, wie es oft bei Missbrauch oder Vernachlässigung der Fall ist, chronisch werden.

Wie äußert sich Dissoziation?

Dissoziation kann sich auf vielfältige Weise zeigen. Zu den häufigsten Symptomen gehören:

1. Depersonalisation

Die betroffene Person fühlt sich von ihrem eigenen Körper oder ihren eigenen Gedanken entfremdet. Sie kann das Gefühl haben, „neben sich zu stehen“ oder sich selbst wie ein Beobachter zu erleben, anstatt die eigenen Erfahrungen direkt zu spüren.

Beispiel: Jemand, der in einer belastenden Situation ist, kann das Gefühl haben, als wäre er in einem Film, in dem er nur zuschaut und nicht aktiv teilnimmt.

2. Derealisation

Bei Derealisation erlebt die Person die Welt um sich herum als unwirklich, fremd oder verzerrt. Die Umwelt kann als surreal oder „traumhaft“ wahrgenommen werden, als ob sie nicht wirklich ist.

Beispiel: Eine Person, die in einem Konflikt oder einer Stresssituation steckt, fühlt sich, als ob die Welt um sie herum verschwimmt oder verändert sich.

3. Amnesie (Gedächtnislücken)

Eine andere Form der Dissoziation ist das Fehlen von Erinnerungen an bestimmte Ereignisse, oft im Zusammenhang mit traumatischen Erfahrungen. Die betroffene Person kann sich an bestimmte Zeiträume oder Ereignisse nicht erinnern, auch wenn diese in der Vergangenheit stattgefunden haben.

Beispiel: Ein Traumaüberlebender kann Lücken in seiner Erinnerung an bestimmte Ereignisse in der Kindheit haben, insbesondere an die Zeit rund um das Trauma.

4. Dissoziative Identitätsstörung (DIS)

In extremen Fällen kann Dissoziation zur Entwicklung einer dissoziativen Identitätsstörung führen, bei der eine Person mehrere unterschiedliche Identitäten oder Persönlichkeitszustände hat. Diese Zustände können das Gefühl vermitteln, dass verschiedene „Personen“ die Kontrolle über das Verhalten übernehmen.

Beispiel: Eine Person mit DIS könnte sich in verschiedenen Situationen wie jemand anderes fühlen oder sich daran erinnern, Dinge getan zu haben, die sie sich nicht selbst erklären kann.

Warum tritt Dissoziation auf?

Dissoziation tritt als Schutzmechanismus auf, wenn das Gehirn mit überwältigenden oder traumatischen Erlebnissen konfrontiert wird. Diese extremen Erlebnisse können so schmerzhaft oder erschreckend sein, dass das Gehirn sich von den Emotionen und Gedanken abkapselt, um das Überleben zu sichern.

1. Schutz vor überwältigenden Emotionen

Wenn jemand in eine gefährliche oder extrem belastende Situation gerät, kann das Gehirn versuchen, die damit verbundenen Emotionen zu unterdrücken. Dissoziation hilft dabei, diese Gefühle zu „entkoppeln“, sodass die Person nicht von der Intensität der Emotionen überwältigt wird.

2. Vermeidung der traumatischen Erinnerung

Durch Dissoziation wird es der betroffenen Person möglicherweise vorübergehend erleichtert, sich von den schmerzhaften Erinnerungen oder Gedanken zu distanzieren. Auf diese Weise kann die Person die überwältigenden Gefühle, die mit dem Trauma verbunden sind, vermeiden, was zu einer kurzfristigen Erleichterung führt.

3. Erhalt der Funktionalität

In extrem traumatischen Situationen, wie z.B. bei physischer oder sexueller Gewalt, kann Dissoziation eine Möglichkeit sein, in der Situation zu funktionieren, ohne vollständig zusammenzubrechen. Sie hilft der betroffenen Person, sich zu „entkoppeln“, um weiterzuleben und zu überleben, ohne in den Moment der Gewalt „gefangen“ zu sein.

Auswirkungen der Dissoziation auf das Leben

Während Dissoziation kurzfristig eine Schutzfunktion erfüllt, kann sie langfristig zu erheblichen Problemen führen. Besonders, wenn sie chronisch wird oder die betroffene Person Schwierigkeiten hat, zwischen dissoziativen Zuständen und dem realen Leben zu unterscheiden, kann sie das tägliche Leben beeinträchtigen.

1. Beziehungsprobleme

Dissoziation kann es schwierig machen, in engen Beziehungen präsent zu sein. Menschen, die regelmäßig dissoziieren, haben oft Probleme, sich mit anderen zu verbinden oder auf ihre emotionale Realität zu reagieren, was zu Missverständnissen und Konflikten führen kann.

2. Schwierigkeiten mit der Arbeit oder Schule

Personen, die unter Dissoziation leiden, haben häufig Probleme mit der Konzentration und der Gedächtnisleistung, was sich negativ auf ihre berufliche oder schulische Leistungsfähigkeit auswirken kann. Sie fühlen sich möglicherweise abgekoppelt von den Anforderungen des Alltags.

3. Psychische Gesundheit

Langfristige Dissoziation kann zu anderen psychischen Gesundheitsproblemen führen, wie Angststörungen, Depressionen oder posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS). Der ständige Versuch, die Realität zu entfliehen oder Erinnerungen zu unterdrücken, kann die psychische Belastung weiter verstärken.

4. Körperliche Beschwerden

Dissoziation kann auch körperliche Symptome hervorrufen, wie Kopfschmerzen, Schwindel, Übelkeit oder eine allgemeine körperliche Unruhe. Der Körper ist durch die ständige „Flucht“ in den Kopf belastet, was zu physischen Beschwerden führen kann.

Umgang mit Dissoziation

Es ist wichtig zu betonen, dass Dissoziation ein normaler und natürlicher Mechanismus ist, der dem Gehirn hilft, mit extremen Belastungen umzugehen. Wenn jedoch Dissoziation regelmäßig auftritt und das tägliche Leben beeinträchtigt, sollte professionelle Unterstützung in Anspruch genommen werden. Therapeuten, die auf Traumafolgestörungen spezialisiert sind, können dabei helfen, gesunde Bewältigungsstrategien zu entwickeln und mit den zugrunde liegenden Traumata zu arbeiten.

1. Traumatherapie

Eine gezielte Traumatherapie, wie z.B. EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing) oder somatische Therapie, kann dazu beitragen, das Trauma zu verarbeiten und die Dissoziation zu verringern. Diese Therapieformen helfen den Betroffenen, das Trauma schrittweise und in einem sicheren Raum zu bearbeiten.

2. Achtsamkeit und Erdung

Achtsamkeitsübungen und Erdungstechniken (z.B. das Fokussieren auf den Atem oder den Körper) können dabei helfen, in den Moment zurückzukehren, wenn Dissoziation eintritt. Diese Techniken fördern das Bewusstsein für den Körper und das Hier und Jetzt, wodurch der Zustand der Entfremdung verringert werden kann.

3. Selbsthilfegruppen

Der Austausch mit anderen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben, kann sehr heilend sein. Selbsthilfegruppen für Traumatisierte bieten die Möglichkeit, sich in einem sicheren Umfeld auszudrücken und von anderen zu lernen, wie sie mit Dissoziation und anderen Traumafolgen umgehen.

Fazit: Dissoziation als Schutzmechanismus verstehen

Dissoziation ist eine häufige Reaktion auf Trauma, die dem Überleben dient, indem sie den Betroffenen vor der überwältigenden Belastung schützt. Während dieser Mechanismus kurzfristig hilfreich sein kann, kann er langfristig zu Problemen führen, wenn er chronisch wird. Es ist wichtig, Dissoziation zu erkennen und zu verstehen, um den betroffenen Personen zu helfen, die zugrunde liegenden Traumata zu bearbeiten und gesunde Bewältigungsstrategien zu entwickeln. Mit der richtigen Unterstützung ist es möglich, die Kontrolle über das Leben zurückzugewinnen und die Symptome der Dissoziation zu lindern.

Katherine Surtees - aus Krisen wachsen

Katherine Surtees

Katherine Surtees ist Expertin für mentale Gesundheit, Sporttherapie und integrative Psychotherapie. Mit einem Hintergrund in der Notfallmedizin und eigenen Erfahrungen mit gesundheitlichen Rückschlägen begleitet sie heute Jugendliche und junge Erwachsene.